Lernen durch Lehren 

Für traditionelle Lehr-Lern-Formen ist es typisch, dass es einen Lehrenden gibt, der etwas erklärt und einen oder mehrere Lernende, die sich in der Zuhörerrolle befinden. Es ist jedoch die Frage, ob diese Rollenverteilung dem Lernen zuträglich ist. Der Lehrer, der den Stoff bereits beherrscht, ist aktiv und versucht den Sachverhalt aus möglichst vielen Perspektiven darzustellen, während die Lernenden vergleichsweise passiv sind und das Engagement des Lehrers mit mehr oder weniger Interesse und Aufmerksamkeit verfolgen. Eine Möglichkeit, dieses Ungleichgewicht aufzuheben, besteht darin, einen Rollentausch vorzunehmen, um Lernenden die Gelegenheit zu geben zu lehren, damit sie effektiver lernen können.

Es gibt zwei unterschiedliche Methoden, um Lernen durch Lehren umzusetzen. Sie können danach unterschieden werden, ob die Lehrer- und Schülerrollen reziprok sind, also im Wechsel getauscht werden oder ob die Lernenden starr in ihren Rollen bleiben. 

1. Kooperative Lernarrangements 

Bei kooperativen Lernformen werden die Rollen getauscht. Lernen durch Lehren nimmt in vielen kooperativen Lernformen einen zentralen Stellenwert ein. Einige davon sollen im Folgenden exemplarisch dargestellt werden.

a) Skriptkooperation

Die Skriptkooperation ist eine Methode zum kooperativen Lernen aus Texten. Es werden Paare gebildet, die sich einen bestimmten Text aneignen sollen, der zuvor in Leseabschnitte gegliedert worden ist. Dabei lesen beide Partner des Paares zunächst einen ersten Textteil. Einer der Partner erklärt dann dem jeweils anderen die wichtigsten Punkte des Abschnitts, während der Zuhörer bei Unklarheiten Rückfragen stellt sowie auf Fehler und Auslassungen hinweisen kann. Schließlich arbeiten beide zusammen, um Strategien zum besseren Behalten des Textes anzuwenden. Dann wird der nächste Textabschnitt gelesen, wobei die Rollen „Zusammenfasser“ und „Zuhörer“ vertauscht werden.

b) Gruppenpuzzle (jigsaw)

Eine weitere Methode des kooperativen Lernens, bei der Lernen durch Lehren eine große Rolle spielt, ist das Gruppenpuzzle.

Dabei wird als erstes die Thematik, die erarbeitet werden soll, festgelegt und in Teilgebiete aufgeteilt. In der zweiten Phase bilden die Lernenden sogenannte Expertengruppen, die sich selbständig ein Teilgebiet des Themas erarbeiten. Verschiedene Teile des Stoffs werden dabei durch verschiedene Expertengruppen abgedeckt.

In einer dritten Phase organisieren sich die Expertengruppen in Lerngruppen um und zwar so, dass in jeder Gruppe ein Experte für jedes Teilgebiet vorhanden ist. Der Experte für ein bestimmtes Teilgebiet vermittelt dann jeweils den Partnern in der Lerngruppe die entsprechenden Inhalte.

Die vierte Phase dient der Integration und Evaluation. Dabei kann das Thema im Plenum nochmals bearbeitet werden, zum anderen kann die zurückliegende Kooperation reflektiert werden.

c) Tutoring

Tutoring ist kein reziprokes Lehren, sondern ein Lernarrangement mit starren Rollen. Der Lehrende ist meist ein Tutor (oder Berater), der älter als der Betreute ist und die Lehr-Rolle beibehält. Ein Rollentausch ist in der Regel nicht vorgesehen. Tutoring verbessert sowohl die Lernleistung des Betreuten als auch die des Tutors.

Lesenlernen durch Tutoring

Dieses Tutoringprogramm von 1976 gilt als „Klassiker“. Bei diesem Ansatz wird neben der Förderung der Leseleistung der Betreuten explizit ein Gewinn für die Tutoren angestrebt, und zwar sowohl hinsichtlich der Leseleistung als auch in Hinblick auf Einstellung und Motivation. Bei diesem Programm werden freiwillige Schüler der 10. Und 11. Jahrgangsstufe gesucht, welche bereit sind eine Tutorenrolle für Schüler aus der vierten oder fünften Klassenstufe zu übernehmen. Diese Tutoren erhalten zur Vorbereitung ein spezielles Training, in welchem ihnen Informationen über ihre Rolle, was sie in den einzelnen Sitzungen zu tun haben und die zu betreuenden Schüler gegeben werden. Danach treffen sich die Tutoren mehrere Monate lang einmal bis zweimal pro Woche für etwa eineinhalb bis zwei Stunden mit ihren Schützlingen. In dieser Zeit werden Hausaufgaben betreut und es wird 30 Minuten lang gelesen. Parallel dazu treffen sich die Tutoren mit Lehrern, die als Supervisoren fungieren. Dort werden die Tutoren mit dem Stoff der Viert- und Fünftklässler bekannt gemacht, um die Hausaufgaben kompetent betreuen zu können, und es werden ihnen Strategien für das Lehren von Lesen und für den Umgang mit Problemen in der Beziehung zu den von ihnen Betreuten vermittelt. Zudem können Probleme, die beim Tutoring entstehen, besprochen werden.

Mit einem solchen Programm kann sowohl die Leseleistung der Betreuten als auch die der Tutoren gesteigert werden. 

d) Lernen durch das Design von Lernprogrammen

Bei dieser Methode werden von Schülern der vierten Klasse Lernprogramme zum Thema Brüche für Schüler der dritten Klasse erstellt. Dadurch sollen sowohl die mathematischen Kenntnisse als auch die Fertigkeiten im Programmieren gefördert werden. Jeder Schüler erstellt ein eigenes Programm und wird dabei von einem Lehrer unterstützt, zum Teil helfen sich die Kinder bei der Bewältigung bestimmter Probleme auch gegenseitig. Die Schüler arbeiten vier Monate lang etwa eine Stunde pro Tag an ihrem Projekt. Einmal im Monat kommen die Drittklässler zu Besuch, mit denen die Viertklässler vorläufige Teile ihres Programms ausprobieren können. Besonders die Programmierfähigkeiten der Tutoren können auf diese Weise gefördert werden.

Beide Tutoringprogramme lassen sich natürlich auch auf andere Inhalte anwenden.

2. Gründe für die Wirksamkeit von Lernen durch Lehren 

Es liegen drei wichtige Gründe für die Wirksamkeit von Lernen durch Lehren vor:

1. Die Lehr-Erwartung

Ein Lernender, der erwartet, den zu erarbeitenden Stoff später weitergeben und erklären zu müssen muss sich in der Vorbereitungsphase sowohl anders als auch intensiver als auf einen Test oder eine Prüfung vorbereiten. Dies führt in der Regel zu einem vertieften Lernen und einem größeren Verständnis des Lernstoffs.

2. Das Geben von Erklärungen

Beim Erklären des Lernstoffs müssen Lernende ihr Wissen organisieren und strukturieren, um es weitergeben zu können. Außerdem können ihnen beim Erklären eigene Wissenslücken oder Verständnisprobleme auffallen. Durch die Anforderung zu erklären wird also eine tiefere Durchdringung des Lernstoffs erforderlich.

3. Reagieren auf Rückfragen

Durch Rückfragen zu Unklarheiten von Seiten der Mitlernenden werden die Erklärenden angehalten, bestimmte Sachverhalte nochmals gründlich zu überdenken, neue Zusammenhänge herzustellen und potentielle Widersprüche aufzulösen. Auch dies kann das Verständnis und den Lernerfolg des Erklärenden fördern.

 

 

 


 

 

Gepr. Berufspädagoge, Aus- u. Weiterbildungspädagoge, Ausbildung der Ausbilder IHK