Erfahrungsgeleitetes Arbeiten 

       Es ist viel leichter, völlig Neues in den Blick zu nehmen, 
       als bisher Bekanntes in neuer Weise zu betrachten.

1. Erfahrungsgeleitetes Arbeiten/Handeln

Von Erfahrung sprechen wir üblicherweise dann, wenn man sich über (meist längere) Zeit einen „Erfahrungsschatz“ erworben und angesammelt hat. Man kann auf zurückliegende Ereignisse zurückgreifen und sie nutzen, um sie auf aktuelle Situationen anzuwenden und diese zu bewältigen. Damit stößt man allerdings dann an Grenzen, wenn es um die Bewältigung neuer Situationen und Herausforderungen geht – wie wir sie heute in der Arbeitswelt immer häufiger und in immer komplexerer Form erleben. Besondere Bedeutung kommt dabei der Tatsache zu, dass wir es zunehmend mit unplanbaren, unwägbaren Situationen zu tun haben, sowie der Tatsache, dass unser einmal erworbenes (Erfahrungs-)Wissen schlechthin immer schneller veraltet. Damit aber kann die Übertragung alter Erfahrungen (auch Routinen) auf solche veränderten Anforderungssituationen heutiger Arbeit nicht nur nicht mehr ausreichen. Sie kann hierfür sogar hinderlich sein!

Zunehmend notwendig wird es dann aber, sich nicht an Vergangenem zu orientieren, sondern die jeweils aktuellen arbeitsbezogene Anforderungssituation als Grundlagen für ein situatives „Erfahrung-Machen“ zu nutzen. Die neue Bedeutung der Erfahrung (oder des „Erfahrungswissens“) liegt somit darin, in der momentanen Situation erfahrungsoffen und erfahrungsfähig genug zu sein, um vorhandenes Wissen und Können zu korrigieren, weiterzuentwickeln und die Fähigkeiten auszubilden, die man benötigt, um mit dieser Situation zurechtzukommen – d.h. sich von ihr auch „leiten“ zu lassen.

Genauer betrachtet umfasst diese „situative Erfahrungsfähigkeit“ eine Reihe von Fähigkeiten, die uns meist zwar nicht fremd sind, die wir üblicherweise aber nicht anführen, wenn es um die Beschreibung der „sachlich-fachlichen“ Arbeitsanforderungen und Qualifikationen geht. Im Vordergrund stehen dort die Kriterien eines „zweckrationalen“, „planmäßigen“ (auch: „objektivierenden“) Arbeitshandelns und Wissens. Will – und muss – man im beschriebenen Sinne aber auch „erfahrungsgeleitet handlungsfähig“ sein, so sind und werden Fähigkeiten einer anderen – nämlich „subjektivierenden“ – Qualität bedeutsam, die zu den bisherigen – gleichberechtigt (!) – hinzutreten müssen.

Beim Arbeiten muss – in freilich je nach Tätigkeit unterschiedlichem Ausmaß – immeretwas a) körperlich, b) geistig, c) bezüglich des angebrachten Vorgehens und c) auch hinsichtlich der „Beziehungen“ zu Menschen wie Arbeitsgegenständen gekonnt und gewusst werden (Arbeitsanforderungen). Unter diesem Blickwinkel lässt sich gut erkennen, welche neuen, „subjektivierenden“ Merkmale zu dem bisherigen, „objektivierenden“ Arbeitshandeln hinzutreten müssen:

 

Wichtig ist: Erfahrungsgeleitetes Arbeiten besteht zum einen darin, auch über die „subjektivierenden“ Fähigkeitendimensionen zu verfügen und diese einsetzen zu können. Keineswegs aber geht es hier um ein „entweder – oder“!. Erfahrungsgeleitet Handeln zu können besteht zum anderen und insgesamt nämlich darin, je nach Situation und Anforderung die jeweils angemessenen Handlungsformen einsetzen zu können!

Deutlich wird hier gerade auch für die berufliche Bildung: Auf unseren gängigen Lernund Bildungswegen dominiert nach wie vor die Ausbildung der „objektivierenden“ Handlungsfähigkeiten und Wissensformen. Wie also kann man diese andere, oft verborgene Seite der Erfahrungsfähigkeit erwerben)?

2. Wie kann man „erfahrungsgeleitetes Arbeiten“ lernen?

(1) Erfahrungslernen geschieht über das Tun, das Handeln.

• Denn Erfahrung ist kaum zu vermitteln und lehrbar. Man muss sie sich selbst erwerben, d.h. erlernen!

• Ausgangspunkt dieses Lernens ist daher das praktische Erfahrung-Machen in der (möglichst realen, insbes. betrieblichen) Praxis. Die Praxis steht also vor der Theorie.

• Das bedeutet auch: Nicht ein Fach oder Curriculum ist der Lernanlass, sondern eine Situation.

(2) Man muss daher situationsbezogen („situativ“) sehr achtsam wahrnehmen können, was geschieht.

• Für diese Aufmerksamkeit im Tun ist eine erkundende, erspürende, herantastende Wahrnehmungsfähigkeit notwendig. Ich gehe vor wie in einem Dialog, nehme möglichst viel von meinem „Gegenüber“ wahr. Nur dadurch entwickeln sich ein „Gefühl bzw. Gespür“ für Situationen und Anforderungen.

(3) Dazu gehört dann allerdings auch die Überprüfung der Erfahrung, d.h. ihre Reflexion im Sinne ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit (=Theorie).

• Aber auch diese „Reflektieren“ sollte nicht allein „analytisch-logisch“ erfolgen, sondern auch ein „empfindungsnahes Verstehen“ beinhalten, also bildhafte, assoziative Formen. Ich muss das, was ich den Dinge „tue“ und das, was ich von ihnen „erleide“, „nach vorwärts und rückwärts mit einander in Verbindung bringen“. (nach J. Dewey)

(4) Dieses Lernen ist ein Lernen in und für Unsicherheitsbedingungen bzw. „offene Situationen/Aufgaben-stellungen“.

• Lernziel ist es daher, mit Offenheiten, Unwägbarkeiten etc. umgehen, und sie positiv nutzen zu können etwa im Sinne: die „Störung“ ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, die mein professionelles Handeln erfordert. Die Erfahrungssystematik ersetzt die Fachsystematik.

• Dazu sind allerdings ein Mindestgrad für experimentelles Handeln und einer „Kultur der Fehlerfreundlichkeit“ (aus Fehlern lernen zu können) erforderlich!

(5) Erfahrungsgeleitetes Lernen hat zum Ziel, zwischen dem objektivierenden und subjektivierenden Handlungsmodus situationsadäquat balancieren zu können.

• Die bisherige Überbetonung des objektivierenden Modus erfordert in der Aus- und Weiterbildung eine Überbetonung des subjektivierenden Lernmodus. Diese muss mit dem 1. Tag der Ausbildung beginnen und sich wie ein roter Faden durch die gesamte Ausbildung ziehen.

 


 

 

Gepr. Berufspädagoge, Aus- u. Weiterbildungspädagoge, Ausbildung der Ausbilder IHK