Fallstudie 

Die Fallstudie ist eine berufspädagogische Methode, die von komplexen Fällen aus der Praxis ausgeht. Zu realen oder realitätsnahen Problemen werden Lösungsmöglichkeiten gesucht, diskutiert und ausgewählt. Die Lösung dieser realitätsnahen Problemsituationen setzt Lernprozesse in Gang, die praktisches Handeln begründen und vorbereiten.

Die Fallstudie zeichnet sich durch eine besondere Verbindung von Lernen und Arbeiten aus, weil den Lehr-Lern-Prozessen tatsächliche oder nachgestellte Probleme und Arbeitssituationen zugrunde liegen und weil praktizierbare Lösungen gesucht werden. Sie gehört zu den handlungsorientierten Methoden, weil das Lernarrangement eine selbständige Bearbeitung der Fälle durch Lernende vorsieht. Insofern ist die Fallstudie eine methodische Problemlösungs- und Entscheidungsübung am Beispiel einer konkreten Situation.

Um an einer Fallstudie lernen zu können, muss der „Fall“ vorher gründlich aufbereitet werden, d.h. er muss genau beschrieben sein, es müssen alle zur Bearbeitung relevanten Informationen gegeben sein, man muss die Rollen, Ziele, Bedingungen der beteiligen Akteure kennen sowie die genaue Ausgangssituation. Alle diese Unterlagen sollten schriftlich vorliegen, so dass die Bearbeiter sie gründlich studieren können.

1. Ziele der Fallstudien

Die Lernenden erwerben bei Fallstudien Problemlösungs- und Entscheidungskompetenz, indem sie zunächst bei der selbständigen Bearbeitung von Fällen in Arbeitsgruppen Lösungen entwickeln und begründen sowie anschließend eine Entscheidung über die beste Lösung treffen. Dieses Vorgehen fördert auch die Fähigkeit zur Situationsanalyse, zur Beschaffung von Informationen und die Bewertung von Folgen. Insofern bereiten Fallstudien auf Handeln im Berufs- und Arbeitsleben vor. Mit den Lehr-Lern-Prozessen ist darüber hinaus die Förderung von Selbständigkeit und sozialer Kompetenz verbunden.

Der didaktische Sinn von Fallstudien liegt nicht primär in der Vermittlung von Fachkenntnissen, sondern in deren Bewertung, Einschätzung, Diskussion. Mit der Entwicklung von Problemlösungs- und Entscheidungsfähigkeit ist zwar der selbständige Erwerb von beruflich-fachlichem Wissen verbunden, aber die zentralen Lernziele, die eine Fallstudie in der Ausbildung legitimieren, entstammen nicht der Ebene der Kenntnisse. Es geht vielmehr um die Anwendung der beruflich-fachlichen Kenntnisse in der Praxis, um deren Bewertung unter praktischen Gesichtspunkten und um die Förderung von (beruflicher) Handlungskompetenz.

2. Kriterien für Fälle 

Besonders eignen sich für Fallstudien Themen, von denen die Gesprächsteilnehmer individuell betroffen sind oder mit denen sie sich in Zukunft wahrscheinlich auseinander setzen müssen. Voraussetzung ist aber auch, dass die Gesprächsteilnehmer zum Thema etwas zu sagen haben und einen Zugang haben – sei es aus eigener Erfahrung oder aufgrund ihres Vorwissens.

Fälle, die für Fallstudien geeignet sind, müssen folgenden Kriterien genügen:

• Der Fall sollte lebens- und wirklichkeitsnah sein und so gefasst sein, dass ein unmittelbarer Bezug zu den bisherigen Erfahrungen und Erlebnissen sowie zu zukünftigen Lebenssituationen der Lernenden hergestellt werden kann.

• Der Fall sollte problem- und konflikthaltig sein.

• Der Fall sollte überschaubar und unter den zeitlichen Rahmenbedingungen und individuellen Voraussetzungen – Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten des Lernenden – lösbar sein.

• Der Fall sollte mehrere Lösungsmöglichkeiten zulassen.

3. Phasen der Fallstudie

Wie jeder planmäßige Lehr-Lern-Prozess ist auch die Fallstudie gegliedert. In der Regel unterscheidet man folgende Phasen:

a) Konfrontation

Die Konfrontation mit dem Fall dient dazu, die komplexe Situation zu erfassen und die zentralen Probleme des Falls im Zusammenhang mit der Aufgabenstellung zu bestimmen. Die hierbei notwendige Situations- und Problemanalyse stellt eine wichtige, aber auch eine schwierige Aufgabe bei Fallstudien dar. Dies gilt sowohl für die Vorbereitung und Zusammenstellung der Unterlagen und Materialien als auch für den Lernprozess selbst.

b) Information

In der Phase der Information werden die vorliegenden Informationen zu dem Fall analysiert und ausgewertet. Außerdem ergibt sich aus der Analyse der Situation und der Probleme die Notwendigkeit, noch weitere Informationen zu beschaffen, um die Probleme des Falls zu bearbeiten. Manchmal sind in dieser Phase auch Erkundigungen vor Ort zweckmäßig und sinnvoll.

c) Exploration (Untersuchung) 

In der anschließenden Phase der Exploration werden Lösungswege und Lösungsmöglichkeiten für die Probleme des Falls erarbeitet.

d) Resolution (Beschluss)

Über die verschiedenen Lösungsalternativen wird dann in der Phase der Resolution entschieden. Dabei bedenken und diskutieren die Lernenden sowohl Bedingungen und Voraussetzungen als auch die Vor- und Nachteile sowie die Konsequenzen, die eine vorgeschlagene Lösung nach sich zieht. Die Phasen 3 und 4 hängen eng zusammen und betreffen beide den Prozess der Entscheidungsfindung.

e) Disputation (Diskussion)

Die Entscheidung in den Gruppen für eine bestimmte Lösung muss dann in der gemeinsamen Phase der Disputation diskutiert werden. Die Lösungsvorschläge sind zu begründen und gegen Einwände zu verteidigen. Schließlich einigt man sich auf die beste der Lösungen.

f) Kollation (Vergleich)

Doch die Fallstudie ist erst dann abgeschlossen, wenn die Lernenden ihre endgültige gemeinsame Entscheidung in der Phase der Kollation mit der tatsächlichen Entscheidung in der Wirklichkeit verglichen haben. Hierbei zeigt sich, wie realitätsnah die Ergebnisse der Arbeit in der Fallstudie sind.

4. Sozialformen bei Fallstudien 

Die Sozialformen wechseln bei den einzelnen Phasen der Fallstudie zwischen Frontalunterricht, Unterrichtsgespräch und Gruppenarbeit. In der Phase der Konfrontation kann die Darstellung des Falles und der Problemsituation von Seiten der Lehrenden, also frontal erfolgen. Wenn der zu bearbeitende Fall und die Aufgabenstellung schriftlich vorliegen, kann man sogleich mit der Problem- und Konfliktanalyse, der Situationsanalyse sowie der Zielabklärung in der Sozialform des Unterrichtsgesprächs beginnen.

In den anschließenden Phasen der Beschaffung und Auswertung von Informationen und bei der Entscheidungsfindung (Exploration und Resolution) eignet sich die Gruppenarbeit, weil die Suche nach Lösungen besser zusammen mit anderen in Kleingruppen erfolgt und weil dort eine intensive Auseinandersetzung mit den Vorliegenden Informationen möglich ist. Dies gilt auch für die Ausarbeitung von Lösungsvorschlägen sowie die Ermittlung von Vor- und Nachteilen bei den unterschiedlichen Lösungsvarianten. Sinnvollerweise bedienen sich deshalb diese Phasen einer Fallstudie der Sozialform Gruppenarbeit.

Wenn in der Diskussion der Ergebnisse (Disputation) die Lösungsvorschläge der einzelnen Gruppen gemeinsam diskutiert und wenn abschließend beim Praxisvergleich (Kollation) die Ergebnisse mit der Realität verglichen werden, eignet sich dafür die Sozialform des Unterrichtsgesprächs, bei der alle Lernenden wieder einen gemeinsamen Diskussionskreis bilden.

Die Fallstudie kann die Einseitigkeit traditioneller Unterweisungsmethoden und des Frontalunterrichts ausgleichen, weil hier die Lernenden selbständig die Steuerung und den Verlauf des Lernprozesses bestimmen können. Ausbilder und Lehrer sind bei richtigem Verständnis der Rolle von Lehrenden im Rahmen dieser Methode nach der Phase der Konfrontation nur Berater, Experten, Gesprächspartner.

5. Lernziele von Fallstudien

• Analyse von komplexen Fällen aus der Praxis
• Bewertung von praxisbezogenen Informationen und Situationen
• Problemlösungs- und Entscheidungsfähigkeit
• Diskussion und Stellungnahme bei Problemen betrieblicher Praxis
• Selbständigkeit, auch bei der Beschaffung von Informationen
• Fähigkeit zu Äußerung und Begründung von Auffassungen
• Soziale Kompetenz in Klein- und Großgruppen
• Kritikfähigkeit und Klärung von Standpunkten


 

 

Gepr. Berufspädagoge, Aus- u. Weiterbildungspädagoge, Ausbildung der Ausbilder IHK