Berufsbiografische Gestaltungsfähigkeit


Das Schlagwort „Abschied vom Lebensberuf“ umreißt den permanenten Wandel in der Arbeitswelt. Niemand kann heute mehr davon ausgehen, den einmal erlernten Beruf bis zum Rentenalter auszuüben. Statt dessen muss mit vielfältigen Umbrüchen und Veränderungen im Lauf des Lebens gerechnet werden: Mit großer Wahrscheinlichkeit wird die eigene Berufsbiografie auch Phasen von Arbeitslosigkeit aufweisen, werden sich die Inhalte und Tätigkeiten des Ausbildungsberufs erheblich wandeln, das Arbeitsleben sich in Phasen von Arbeit und Weiterbildung gliedern, sind Wechsel in andere Tätigkeitsfelder und Berufe notwendig, verschwinden alte und entstehen neue Berufe.

Das bedeutet aber, dass von den einzelnen Menschen gefordert ist, sich nicht länger darauf zu verlassen, dass ihnen „Arbeitgeber“ Arbeit geben, die sie nur „nehmen“ müssen. Vielmehr ist jeder Einzelne heute darauf angewiesen, für sich und seinen Ausbildungs- und Berufsweg selbst die Verantwortung zu übernehmen, sich selbst aktiv um Möglichkeiten der Beschäftigung zu kümmern, selbst Weiterbildungs- und Neuorientierungs-notwendigkeiten zu erkennen und aktiv umzusetzen.

Diese Entwicklungen beziehen sich keineswegs nur auf diejenigen, die bereits längere Zeit im Berufsleben stehen. Sie haben ganz besonders für junge Menschen am Beginn ihres Berufswegs weitreichende Folgen – und damit auch für diejenigen, die die Berufsausbildung verantworten. Berufsausbildung muss heute nicht mehr nur auf einen Beruf vorbereiten, sondern auf ein Berufsleben, das von Umbrüchen gekennzeichnet sein wird.

Das Berufsleben hat inzwischen überall aufgehört, ein bequemer Salonwagen zu sein, der vielleicht manchmal schwierig war zu besteigen, in dem man sich aber dann, hatte man dies geschafft, bequem in seinem Sessel zurücklehnen und zusehen konnte, wie er einen sicher und zuverlässig ans Ziel brachte. Eher gleicht es einem Fahrrad, bei dem alles davon abhängt, was der Fahrer tut, und auf dem man die Höhen und Tiefen, die Steigungen und Abfahrten einer bewegten Landschaft sehr hautnah mitbekommt. Nur wenige Fahrradtouren führen bequem durch die Ebene, manche über eine ganze Kette von Bergpässen, und für einige Fahrer geht es gar ‘querfeldein’.

Die Zukunft ist also für alle Menschen heute weniger langfristig planbar denn je. Die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu den guten alten Zeiten der Sicherheit ist zwar verständlich, führt jedoch ins Leere, da institutionalisierte Sicherungen und kollektive Interessensvertretungen zunehmend außer Kraft gesetzt werden. Die Folge: Jeder Einzelne muss akzeptieren, dass er im Umgang mit Umbrüchen in seiner Berufs- und Lebenswelt im Wesentlichen auf sich allein gestellt ist. Gefordert sind umfassende Selbstverantwortung, Flexibilität, die Bereitschaft, nicht auf einem einmal erreichten Status zu beharren, sondern sich bietende Chancen situativ zu nutzen – ja mehr noch: sich solche neuen Chancen selbst zu erschließen. Das neue Leitbild heißt: jeder ist für das Aufrechterhalten seiner →„Beschäftigungsfähigkeit“ selbst verantwortlich. Dazu aber bedarf es neuer Kompetenzen, die erst einmal erworben werden müssen.

Als erstes fällt ins Auge, dass dafür Fähigkeiten benötigt werden, sich am Arbeitsmarkt zu behaupten. „Aus einem meist nur gelegentlich und dabei oft eher passiv auf dem Arbeitsmarkt agierenden Arbeitskraftbesitzer muss jetzt ein auf neuer Stufe strategisch handelnder Akteur werden“, der sich als „Unternehmer der eigenen Arbeitskraft“ begreift und entsprechend handeln kann. D.h. das eigene Arbeitsvermögen muss auf dem Weg des Selbstmarketing angeboten werden. Damit geht die Gefahr einher, sich um jeden Preis „verkaufen“ zu wollen, die persönliche Flexibilität bis zu blinder Anpassungsbereitschaft zu treiben. Positiv interpretiert kann Selbstmarketing heißen, gesellschaftliche Bedarfe zu erkennen, sich damit in Beziehung zu setzen und „Öffentlichkeit für die eigenen Talente“ (T. Sattelberger) zu schaffen – also in einem Sinn „selbst-unternehmerisch“ zu handeln, der immer wieder neu Passungen zwischen Anforderungen von außen und persönlichen Entwicklungsstrebungen schafft.

Dies geht jedoch einher mit der Notwendigkeit, immer am Ball zu bleiben, d.h. sich eigenständig laufend fachlich weiterzubilden und persönlich weiterzuentwickeln. Moderne Arbeits- und Lebenssituationen erfordern die Bereitschaft und Fähigkeit zu lebenslangem, besser: lebensbegleitendem Lernen. Dies gilt im Hinblick auf die rasche technologische Entwicklung ebenso wie im Hinblick auf organisationale Veränderungen, die ein Mehr an Eigenverantwortlichkeit, Teamfähigkeit usw. verlangen. Das Konzept der „lernenden Organisation“ baut darauf, dass Mitarbeiter/innen Arbeiten und Lernen verbinden können, dass sie aus eigenem Antrieb bereit sind, sich weiterzuqualifizieren und ihre Lernwege selbst zu organisieren. Und im modernen Leben kommt man ohne Lernen nicht einmal mehr mit alltäglichen technischen Geräten zurecht.

Im Berufsleben reicht es heute nicht mehr aus, dass man sich „nachholend“ weiterqualifiziert, indem man erst dann Neues lernt, wenn die berufliche Praxis dessen Notwendigkeit schon erwiesen hat. Vielmehr ist eine umfassende Selbstlernkompetenz gefragt, die neben institutionalisierten Weiterbildungsaktivitäten (Seminare, Kurse) auch die Lernchancen nutzt, die sich in der Arbeit - und darüber hinausgehend in jeglicher Lebenssituation – bieten. „Lernend arbeiten“ wird ebenso zum Gebot der Stunde wie die Fähigkeit, eigenen neuen Lernbedarf (und eigene Entwicklungswünsche) selbst festzustellen, sich selbst unabhängig von äußeren Anlässen eigenständig Lernziele zu setzen Wege zu deren Realisierung zu finden und den eigenen Lernprozess zu reflektieren. Immer stärker wird im Zuge dieser Entwicklung deutlich, dass Menschen weitaus mehr wissen und können, als ihre formellen Qualifikations-Zertifikate aussagen. Nonformal und informell erworbenen Kompetenzen kommt große Bedeutung zu – in zweifacher Hinsicht. Zum einen werden sie auf dem Arbeitsmarkt mehr und mehr nachgefragt, da reine Fertigkeiten, die für die Arbeitsausführung erforderlich sind, heute ebenso wenig ausreichen wie eng gefasste fachliche Qualifikationen. Zum andern sind die formell und informell erworbenen Kompetenzen das persönliche „Kapital“, das „Arbeitskraft-Unternehmer“ auf dem Arbeitsmarkt anbieten können. Daher werden Verfahren benötigt, wie diese Kompetenzen für andere sichtbar gemacht werden können. Abgesehen von diesen formalisierten Verfahren besteht für den Einzelnen generell die Anforderung, sich selbst Klarheit über seine vorhandenen Kompetenzen zu verschaffen, d.h. er muss sich seiner „Fähigkeitengestalt“ bewusst werden. In einem zweiten Schritt kann er diese Kompetenzen dann in eine geeignete Form bringen, um sie nach außen zu kommunizieren. Er muss also in der Lage sein, seine eigenen Fähigkeiten zu erkennen, zu dokumentieren und sein persönliches Kompetenzprofil zu erstellen. Darüber hinaus zeigt sich ihm in der Untersuchung der bisher vorhandenen Kompetenzen möglicherweise, welche neuen Fähigkeiten sinnvoller weise entwickelt werden sollten.

In einer Welt im permanenten Wandel muss jeder Einzelne in der Lage sein, der Kurzatmigkeit von Arbeits- und Marktanforderungen, die von außen an ihn gestellt werden, mit seinem eigenen „langen Atem“ zu begegnen, d.h. die Anforderungen in ein Verhältnis zur eigenen Person zu setzen. Berufsfragen und Arbeitsfragen sind heute auf das Engste verknüpft; sie erstrecken sich „in die ‚Tiefen’ der Person, in die ‚Breite’ des alltäglichen Lebens und in die ‚Weite’ des biografischen Verlaufs der Existenz“ Wenn aber die Orientierung rein an äußeren Anforderungen nicht ratsam ist, müssen Möglichkeiten der „inneren“ Orientierung gefunden werden, die in allen Umbrüchen dennoch Bestand und Richtung hat.

Dies gelingt nicht, ohne dass die eigene Lebensgeschichte als Prozess verstanden wird, in dem sich trotz aller Veränderungen ganz individuelle Muster und Gestalten zeigen, die als „roter Faden“ der eigenen Biografie gedeutet werden können. In diesen Gestalten werden die ureigenen Intentionen, Werte, Ideale, Lebensziele erkennbar. Sie ermöglichen die Beurteilung der äußeren Anforderungen und fordern dazu auf, individuell angemessene Umgehensweisen damit zu entwickeln. So kann aus der Bereitschaft zu unbegrenzter Flexibilität lebendige Beweglichkeit werden, können Umbrüche zu Entwicklungsimpulsen gemacht werden. Erst ein solcher biografischer Blick ermöglicht es, diskontinuierliche Realitäten produktiv zu verarbeiten und Veränderungen in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Zur Bewältigung der modernen Anforderungen in Arbeit und Beruf ist es unerlässlich,

  • Sich beständig lernend und aus eigener Initiative mit Neuem auseinander zu setzen
     (Selbstlernkompetenz)

  • Sich der eigenen Kompetenzen bewusst zu werden (eigenes Kompetenzprofil)

  • Die eigene (Berufs-)Biografie als Wandlungsprozess zu verstehen
     (biografische Orientierung)

  • Sich in ein Verhältnis zu gesellschaftlichen Bedarfen zu setzen und sich
     „unternehmerisch“ auf dem Markt zu behaupten (Selbstmarketing).

Wir nennen dieses Fähigkeitenbündel berufsbiografische Gestaltungskompetenz. Zusammengefasst, gehört zu ihr:

Lernkompetenz, d.h. sich beständig lernend und aus eigener Initiative mit Neuem auseinander zu setzen. Es geht darum, neben institutionalisierten Weiterbildungs- aktivitäten auch alle die Lernchancen zu nutzen, die sich in der Arbeit – und darüber hinausgehend in jeglicher Lebenssituation – bieten. „Lernend arbeiten“ gehört ebenso dazu wie die Fähigkeit, eigenen neuen Lernbedarf selbst festzustellen, sich selbst unabhängig von äußeren Anlässen eigenständig Lernziele zu setzen, Wege zu deren Realisierung zu finden und den eigenen Lernprozess zu reflektieren.

Persönliches Kompetenzprofil, d.h. sich der eigenen Kompetenzen bewusst zu werden und diese für Andere nachvollziehbar zu präsentieren. Dies betrifft insbesondere informell erworbene Kompetenzen. Hier geht es zunächst darum, dass man sich dieser Kompetenzen bewusst werden kann, indem man gemeisterte Situationen nach den dabei bewältigten Anforderungen untersucht und so sein eigenes Kompetenzprofil kennen lernt. Im nächsten Schritt wird daraus ein persönliches Portfolio erstellt, das als Grundlage der Präsentation eigener Kompetenzen vor Anderen dient.

Biografischer Blick, d.h. berufliche Fragen mit der eigenen Person in Beziehung zu setzen und die eigene (Berufs-)Biografie als Wandlungsprozess zu verstehen. Es geht darum, immer wieder neu Anforderungen von außen sowie persönliche Ziele auszubalancieren, bewusst neue Herausforderungen zu suchen, die einen Beitrag zur eigenen Weiterentwicklung versprechen, die eigene berufliche Identität zu finden, Krisen produktiv zu verarbeiten und innere Orientierungen zu finden.

Selbstmarketing, d.h. Öffentlichkeit für die eigenen Kompetenzen herzustellen. Dazu gehört, proaktiv zu handeln und selbst Mittel und Wege zur Aufrechterhaltung der Beschäftigungsfähigkeit zu finden. Es bedeutet nicht, sich „um jeden Preis zu verkaufen“, sondern vielmehr, sich „selbst-unternehmerisch“ auf dem Markt zu behaupten, indem man gesellschaftliche Bedarfe erkennt und sichtbar macht, wo man selbst zu deren Deckung beitragen kann.

Diese Kompetenz ist jedoch keineswegs selbstverständlich bei allen Menschen vorhanden – sie muss gelernt werden. Bislang wird diese Lernnotwendigkeit vor allem unter dem Blickwinkel von „Karriereplanung“ gesehen; für Führungskräfte existieren seit längerem entsprechende Bildungsangebote. In jüngerer Zeit nehmen Angebote zur „Laufbahnberatung“ zu, ebenso spricht die reiche Literatur an Bewerbungsratgebern u.a. deutlich dafür,dass hier ein hoher Bedarf an Unterstützung vorhanden ist. Diese Angebote richten sich ganz überwiegend an bereits länger im Berufsleben Stehende.

Dabei sehen sich jedoch, wie geschildert, bereits Jugendliche bei ihrer Berufswahl sowie in der Ausbildung mit diesen Anforderungen konfrontiert. Junge Menschen brauchen daher die Möglichkeit, sich von Anfang an lernend damit auseinander zu setzen. Denn der Beginn einer Ausbildung stellt für junge Menschen den Start in einen entscheidenden Lebensabschnitt dar. Die Berufswahl kann man als „Entscheidung über den Anfang der persönlichen Berufsbiografie“ beschreiben. Es handelt sich also eigentlich gar nicht mehr um die „Wahl eines Berufs“, sondern lediglich um eine „Ausbildungswahl“, d.h. also um die Wahl der ersten Station im offenen Prozess der eigenen Berufsbiografie. Diese erste Station jedoch ist von erheblicher Bedeutung; die Erfahrungen, die dort gemacht werden, sind prägend für die persönliche Fähigkeit der längerfristigen Perspektivbildung. Sie sind zugleich überschattet von der Einsicht, dass die erfolgreiche Absolvierung einer Ausbildung heute zumeist tatsächlich nur eine erste Station im Berufsleben ermöglicht – danach muss der Berufsweg eigenständig gestaltet werden. Gerade weil es sozialpolitisch wichtig ist, dass viele Betriebe über Bedarf ausbilden, muss die Berufsausbildung über die Vermittlung fachlicher Inhalte hinaus auch die „Zukunfts- und Beschäftigungsfähigkeit“ der Auszubildenden in umfassender Weise stärken, um jungen Menschen eine tragfähige Basis für die Zukunft zu schaffen, so dass sie nicht passiv und resigniert werden, sondern ihr berufliches und persönliches Schicksal selbst in die Hand nehmen können.


 

 

Gepr. Berufspädagoge, Aus- u. Weiterbildungspädagoge, Ausbildung der Ausbilder IHK