Künstlerische Übungen in der beruflichen Bildung 

Viele namhafte ausbildende Unternehmen in vielen verschiedenen Branchen (etwa der Metall- oder Elektro- oder auch der chemischen Industrie) setzen in der Aus- oder Weiterbildung künstlerische Übungen ein: Malen und Zeichnen, Plastizieren, Schauspiel oder Musik. Auch in der Berufsvorbereitung findet man solche Ansätze. Das überrascht immer wieder, denn die Frage ist natürlich berechtigt, was solche Übungen mit der jeweiligen Fachausbildung zu tun haben.

Dieser Zusammenhang wird deutlich, wenn man nicht auf die materiellen Ergebnisse der künstlerischen Übungen (die „Kunstwerke“) sieht, sondern auf die Vorgehensweise, auf die Art des Handelns bei solchen Übungen. Dann wird nämlich deutlich, dass es dabei um ein ganz bestimmtes Handeln geht, das man als wahrnehmungsgeleitet, zieloffen und situationsorientiert beschreiben kann: Man lernt bei diesen Übungen, gerade nicht nach Plan oder eigener Vorstellung vorzugehen, sondern sich den Möglichkeiten des Materials, den zunächst vielleicht zufälligen Gegebenheiten einer eher beliebigen Grundsituation zu öffnen, die darin liegenden Möglichkeiten zu erkennen, sie aufzugreifen und aus ihnen etwas zu machen. Eine Mal- oder Zeichenübung beispielsweise fängt oft damit an, dass das Blatt nur „grundiert“ wird (und man lernt hier, das auch wirklich absichtslos zu tun). Aus dem, was sich so zufällig ergibt, kann man dann durch genaues Wahrnehmen bereits erste Ansatzpunkte für eigene Gestaltungen erkennen, die deutlicher werden, wenn man sie spielerisch verstärkt. Hier entsteht eine Art Gespräch mit dem Blatt, bei dem jede eigene Handlung Veränderungen hervorbringt, die man wieder genau wahrnehmen, auf denen der eigene Blick betrachtend ruhen muss, bewusst ohne eigene Vorstellungsbildung. Hält man diese unbestimmte Suche eine Zeit lang aus, kann man etwas Entscheidendes erleben: Plötzlich kommen einem aus dem Gegenüber, also aus dem angefangenen Blatt Muster, Strukturen entgegen, so etwas wie eine Bildidee entsteht, und zwar – das ist wichtig – nicht aus den eigenen Absichten, sondern aus den Eigengesetzen, aus den verborgenen Möglichkeiten der Sache bzw. der Situation. Man wird dann „vom Blatt“ geführt und kommt in einen Prozess, bei dem man das herausarbeitet, was als Möglichkeit im Gegenüber, in der Situation enthalten ist. Je besser es gelingt, sich diesem Prozess zu überlassen, desto „künstlerischer“ wird auch das Ergebnis sein, d.h. desto weniger gezwungen, gewollt und „ausgedacht“. Kreativität hat nämlich nichts mit Einfallsreichtum oder verrückten Ideen zu tun, sondern damit, aus bekannten Elementen Neues entdecken zu können, und erfordert daher geradezu, dass man erst einmal von sich und seinen Vorstellungen wegkommt.

Systematisch dargestellt, hat man es beim künstlerischen Handeln also mit folgenden Prozessstufen zu tun:

1. Stufe: Unbefangen beginnen
2. Stufe: Fragend handeln
3. Stufe: Neues wahrnehmen
4. Stufe: Anschauend urteilen.

Unbefangen beginnen heißt: die eigenen Vorstellung und Vor-Urteile wegzulassen, sich vollkommen unbefangen der Situation zuzuwenden, sich nicht lange mit allen möglichen unfruchtbaren Vorüberlegungen aufzuhalten, sondern die Situation tätig, das heißt durch praktischen Umgang kennen zu lernen, auf vorgezogene Sicherheiten zu verzichten, sich in das Wagnis des Handelns zu stürzen, bevor man noch alle möglichen Ergebnisse und Folgen bedacht hat.

Damit kann dieses Handeln – 2. Stufe – kein zielgerichtetes Vorgehen sein, das feste Absichten zu verwirklichen trachtet, sondern dieses Handeln muss eben „fragend“ sein. Das heißt: Es tastet sich erst an die Situation heran, es kann auch wieder zurückgenommen werden, es ist eher spielerisch, aber zugleich hoch aufmerksam und wach für alles das, was die Situation (oder der andere Mensch, etwa bei der Musik) „antworten“, was also durch das fragende Handeln über das Gegenüber offenbar wird. Das Gegenüber erschließt sich nicht dem distanzierten Nachdenken, sondern nur dem tätigen, wirklichen Sich-Einlassen, dem aktiven Umgang.

Erst aus diesem fragenden, lauschenden Umgang mit dem Gegenüber kann es sich ergeben, dass – 3. Stufe – „Neues wahrgenommen“ wird, dass die Situationen ihr Geheimnis, ihre verborgenen Möglichkeiten zeigen. Das kann plötzlich und schlagartig geschehen, das kann aber auch ein schrittweises Entdecken sein. Ob es eintritt, hängt von der Wachheit und Unbefangenheit des Handelnden ab, von der Schulung all seiner Sinne, von seinem Engagement für die Dinge, auch von der Lebendigkeit und Offenheit seiner Begriffe, weniger dagegen von seinen Theorien oder von der Zahl der Bücher, die er gelesen hat. So kann es ihm gelingen, im Verlauf des weiteren Prozesses nicht aus seinem subjektiven Hintergrund und seinen persönlichen Vorprägungen zu urteilen, sondern eben – 4. Stufe – aus der „Anschauung“ des Gegenüber, die erst die Objektivität seines Erkennens sicherstellt. Das heißt dann auch, sich im Erkennen und Handeln von dem Angeschauten leiten zu lassen und aus ihm seine Intuitionen ebenso wie seine Handlungsentschlüsse zu gewinnen. Dazu gehören zweifellos auch Erfahrung und Fachkompetenz, aber eben nicht als Wissen um den „richtigen“ Weg, sondern als Beherrschen eines Instrumentariums, das es ermöglicht, den Wahrnehmungen und Urteilen die ihnen gemäße praktische Ausführung folgen zu lassen.

Beim künstlerischen Üben übt man in erster Linie genau dieses unbefangene und wahrnehmungsoffene Handeln aus der Situation (wobei man schnell bemerkt, dass einem viele Anforderungen dieses Handelns keineswegs leicht fallen und man erst einmal sich selbst ganz schön umarbeiten und einige Gewohnheiten überwinden muss, die einem dabei im Weg stehen). Und was hat das mit der Berufsausbildung zu tun?

Die Fähigkeit zum „künstlerischen Handeln“ braucht man nicht nur, wenn man Bilder malen will, sondern man benötigt sie durchaus auch im Alltag, weit weg von allem, was man traditioneller Weise als „Kunst“ ansieht. Man braucht sie nämlich überall dort, wo man es mit unbestimmten, unplanbaren, nicht kalkulierbaren, eben „offenen“ Prozessen zu tun hat, deren konkretes Ziel nicht von vorneherein festliegt, sondern sich erst aus dem Prozess selbst ergibt. Das ist z.B. überall dort der Fall, wo man es mit anderen Menschen zu tun hat: Es empfiehlt sich, ihnen nicht voller Absichten und Vorurteilen zu begegnen, sondern so unbefangen wie möglich auf sie zuzugehen und in der Begegnung herauszufinden, wer der andere ist und was er will oder braucht. Das gilt im Privatleben, das gilt aber auch zum Beispiel für die Begegnung mit Kunden: Kundenorientierung heißt ja nicht, von vorneherein genau zu wissen, was man dem anderen aufschwätzen will, sondern Kundenorientierung heißt, dem Kunden unbefangen zu begegnen und erst einmal herauszufinden, was er eigentlich will oder braucht, und dann zu prüfen, wie ich ihm dazu mit meinen Mitteln verhelfen kann.

Entsprechendes gilt für alle Arten von Besprechungen, Verhandlungen, Klärungen im Team usw.: Geht man mit klaren Absichten in eine Verhandlung, wird es entweder keine (sondern eine Verteilung von Anweisungen), oder man wird scheitern. Verhandeln heißt, die Möglichkeiten und Grenzen des Gegenüber zu erkennen und die Verwirklichung der eigenen Ziele damit zu verbinden (man spricht ja auch von der Diplomatie als der „Kunst des Möglichen“). Auch Führung besteht ja nicht darin, Kommandos zu verteilen und Entscheidungen durchzusetzen, sondern Führung besteht darin, Mitarbeiter zu begeistern und wahrzunehmen, was sie brauchen, um gut zu arbeiten – in der Tat ein höchst künstlerischer Vorgang.

Überall dort, wo es im Berufsleben um das soziale Miteinander von Menschen geht, sind also zumindest ansatzweise Fähigkeiten zum Künstlerischen Handeln gefragt, weil man es hier mit einem Prozess zu tun hat, der viele Merkmale des „Künstlerischen“ trägt. Angesichts der Zunahme von Teamarbeit, Kundenorientierung und Vereinbarungslösungen überall im Arbeitsleben (z.B. in der Folge von Lean Management-Ansätzen) ist das aber ein Feld, das im Berufsleben erheblich an Bedeutung gewonnen hat, und für das es nicht schaden kann, eine Methode gefunden zu haben, die die dafür notwendigen elementaren Fähigkeiten schult.

Aber interessanterweise finden wir Anforderungen des Künstlerischen zunehmend auch in der Fertigung und Organisation, ja sogar im Kaufmännischen Bereich (s.a. Lerneinheit 2, Wandel in der Arbeitswelt): Automations- und Instandhaltungsarbeit etwa ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch ja nicht mehr selbst etwas herstellt, sondern Maschinen überwacht; dabei kann er aber nicht von vorneherein wissen, wann er was tun muss, sondern er muss permanent die (nicht genau vorhersehbare) Situation wahrnehmen und aus ihr ablesen, wann er wie handeln muss. Dabei muss er auch oft ein „dialogisches“ Verhältnis zu seiner Anlage entwickeln (→Erfahrungsgeleitetes Handeln). Ähnliches gilt für die in der modernen Organisationsentwicklung breit realisierten Tendenzen der Deregulierung und Entformalisierung von Prozessen: Man plant die Abläufe nicht mehr bis ins Detail durch, sondern definiert Rahmenaufgaben, von denen man es den Mitarbeitern letztlich selbst überlässt, wie sie diese erfüllen wollen. Auch hier entstehen permanent offene Situationen, in denen wahrnehmungsgeleitet gehandelt werden muss.

Einmal auf dieser Spur, findet man immer mehr Bereiche, in denen im Arbeitsleben „künstlerisch“ gehandelt werden muss und für die künstlerisches Üben also auch eine sinnvolle Methode der Vorbereitung und Förderung der dafür notwendigen Handlungskompetenzen ist. Zwei Anwendungsgebiete seien noch genannt: Zum einen ist ja auch die persönliche Berufsbiografie –heute mehr denn je, →berufsbiografische Gestaltungsfähigkeit - ein offener Prozess, den man sich nicht zielgerichtet ausdenken, sondern dessen Möglichkeiten und Grenzen man offen erkennen und aufgreifen muss und zu dessen Gestaltung man einen künstlerischen Sinn und künstlerische Kompetenz durchaus benötigt. Und zum anderen gilt dasselbe für alle pädagogische Arbeit, also auch für die Arbeit der Berufspädagogen und für die Gestaltung der Berufsbildung: Junge Menschen zu erziehen, heißt, deren mitgebrachte individuelle Möglichkeiten und Fähigkeiten zu entwickeln (und nicht, sie nach einer Schablone zu formen). Und heute ist die Berufsbildung selbst immer weniger genormt, sondern immer mehr offene Gestaltungsaufgabe, bei der viele verschiedene Anforderungen und Bedingungen der Situation ebenso wie immer mehr Möglichkeiten und Elemente zu einem individuellen „Kunstwerk“ komponiert werden müssen.

Wenn künstlerisches Handeln heißt, nicht aus Vorstellungen, sondern aus der Wahrnehmung und „intuitiv“ zu handeln und diffuse Ereignisse zu einem Ganzen gestalten zu können, dann muss heute in der Wirtschaft überall künstlerisch gehandelt werden, und dann werden dort Menschen gebraucht, die genau das können. Darin aber, solche Fähigkeiten zu bilden, liegt die Aufgabe der künstlerischen Übungen in der Berufsausbildung. Es geht also nicht um das Aufstellen von Kunstwerken in den Geschäftsräumen, auch nicht die künstlerische Gestaltung von Bürogebäuden und Werksanlagen – so wichtig dies alles sein mag –, sondern es geht in erster Linie um eine pädagogische Aufgabe: Durch künstlerisches Üben mit Farbe, Ton, Holz, Sprache usw. werden diejenigen Fähigkeiten grundlegend veranlagt und ausgebildet, die für die Bewältigung offener Prozesse notwendig sind. Diese Fähigkeiten müssen dann allerdings von den Arbeitenden selbst auf ihre Arbeitszusammenhänge übertragen werden. Die künstlerischen Übungen bereiten biographisch vor auf die Herausforderungen der modernen Arbeitswelt (aber auch darüber hinaus auf viele Herausforderungen des modernen Lebens überhaupt), bei denen es darum geht, situativ und ohne die Halteseile vorgegebener Regeln und Ordnungen aus eigener Orientierung zu handeln.

 


 

 

Gepr. Berufspädagoge, Aus- u. Weiterbildungspädagoge, Ausbildung der Ausbilder IHK