Interaktive Lehrgespräche

In der betrieblichen Berufsbildung sind Methoden üblich, die originär im Rahmen der Ausbildung entwickelt wurden sowie schulpädagogisch bewährte Unterrichtsformen. Das Unterrichtsgespräch gehört ursprünglich zu den traditionellen Unterrichtsformen in Schulen. Es zeichnet sich dadurch aus, dass sich der Lehr-Lern-Prozess an der Struktur eines Gesprächs orientiert.

1. Arten von Gesprächen und Unterrichtsgespräch

a) Lehrgespräch, Frontalunterricht

Beim Frontalunterricht kommunizieren Lehrende und Lernende einseitig im Sinne einer Belehrung. Ausbilder geben Anweisungen und versuchen durch Zwischenfragen zu ermitteln, ob alles richtig verstanden wurde. Vorbild für solche Methoden war nicht das Gespräch, wie es im Alltag häufig abläuft, sondern ein pädagogisch begründetes Frage-Antwort-Verfahren, über das vor allem Kenntnisse vermittelt werden sollen. Solch ein Frontalunterricht wird auch als Lehrgespräch oder gelenktes Unterrichtsgespräch bezeichnet. Er hat allerdings mit einer normalen Gesprächssituation im Alltag nicht viel gemeinsam, denn es fragen Lehrende, die die richtigen Antworten bereits kennen und diejenigen, die die Antwort nicht kennen sollen antworten. Üblicherweise fragt man erst dann, wenn man etwas nicht weiß! Der Frontalunterricht in Form von Frage-Antwort-Sequenzen hat daher keinerlei Gesprächscharakter, auch wenn von einem Lehr-Gespräch die Rede ist.

b) Interaktives Unterrichtsgespräch

Bei einem Unterrichtsgespräch ist die Kommunikationsstruktur partnerschaftlich, denn in einem echten Gespräch kann grundsätzlich jeder Gesprächsteilnehmer Fragen stellen, Behauptungen aufstellen, Informationen einbringen oder sich in anderer Weise an der Kommunikation beteiligen. Bei einem Unterrichtsgespräch sind alle Gesprächsteilnehmer angesprochen und es können daher auch alle reagieren. Es liegt eine Interaktion vor im Gegensatz zur Aktions-Reaktions-Struktur beim Frontalunterricht, wo der Lehrer fragt und ein Schüler antwortet. Das Interessante an einem solchen Gespräch ist, dass es sich aufgrund der Beiträge der Teilnehmer entwickeln kann und nicht schon zu Beginn feststeht, zu welchem Ergebnis die Teilnehmer kommen sollen. Daher beruht das Unterrichtsgespräch auf einem offenen Gesamtkonzept, weil der Gesprächsverlauf und das Gesprächsergebnis offen sind. Man unterscheidet thematisch gebundene und freie Gespräche, bei denen sich das eigentliche Thema erst nach und nach entwickelt.

Der Vorteil dieser Form des Unterrichtsgesprächs liegt darin, dass die Auffassungen und Meinungen aller am Gespräch Beteiligten eingebracht werden können. Daher nimmt die Vielfalt der Meinungen mit der Größe des Gesprächskreises zu. Größere Gruppen haben andererseits allerdings den Nachteil, dass die Gesprächsanteile von Einzelnen gering sind. Außerdem erfordern große Gruppen eine Gesprächsleitung, um die Verständigung über eine Gesprächsordnung sicher zu stellen.

Je kleiner eine Gruppe ist, desto intensiver können sich die Gesprächsteilnehmer mit einem Thema und mit den anderen Teilnehmern befassen. Daher wird für das Erarbeiten von Lösungen eine Kleingruppe von vier bis sechs Teilnehmern empfohlen. Eine größere Gruppe kann zu diesem Zweck in Kleingruppen aufgeteilt werden, wobei im Anschluss die Gruppenlösungen auch den anderen unterbreitet werden sollten, damit man sie diskutieren kann.

Die Ziele des Unterrichtsgesprächs liegen nicht in erster Linie in der Vermittlung von Fachkenntnissen, sondern in deren Bewertung, Einschätzung, Kritik und Diskussion. Das Gespräch beginnt im Allgemeinen mit der Äußerung und Begründung von Meinungen, Auffassungen, Erfahrungen, Standpunkten, Überzeugungen, Werthaltungen, Einsichten usw. Ziel ist es, durch Stellungnahmen der Teilnehmer die bestehenden Gemeinsamkeiten zwischen den Gesprächsteilnehmern und eine gemeinsame Position zu entwickeln.

Dieser Prozess ist in vielen Fällen wichtiger als inhaltliche Gesprächsergebnisse. Unterrichtsgespräche zielen auf die Entwicklung von Gesprächskompetenz. Je nach Gesprächsverlauf lernen die Teilnehmer die Meinungen Anderer zu berücksichtigen, auf sie einzugehen, sich mit ihnen auseinander zu setzen, aber auch die eigene Position zu begründen und zu verteidigen. Dabei geht es in der Regel um beruflich-fachliche Inhalte.

Die Lernziele liegen in der Förderung von Selbständigkeit und sozialer Kompetenz im Zusammenhang mit der Gesprächsfähigkeit.

c) Sokratische Methode 

Eine Sonderform des Unterrichtsgesprächs ist der sog. „Sokratische Dialog“. Ziel dieser Gesprächsform ist es, ein Thema zu klären, zu dem offenbar unterschiedliche Auffassungen bestehen (z.B. ob die Lösung einer Aufgabe unvollständig, falsch oder ungewöhnlich ist).

Der Lehrende übernimmt dabei die Rolle des Fragenden. Er versucht mit seinen Fragen die Auffassungen, Überzeugungen oder Theorien der Lernenden zu erhellen. Er akzeptiert die gegebenen Antworten und gibt keine Kommentare dazu ab. Es geht zunächst darum, die Perspektive des Lernenden herauszuarbeiten, aus der heraus er die Aufgabe gesehen und bearbeitet hat. Ist diese deutlich, sollen die Fragen Wissensdefizite und Widersprüche zwischen den Antworten des Lernenden aufdecken.

Der Sokratische Dialog ist weniger eine konkrete Strategie oder Technik, sondern vielmehr eine Haltung des Lehrenden. Der Lehrende sollte den Lernenden gegenüber eine ähnliche Haltung einnehmen wie einst Sokrates seinen Schülern gegenüber. Diese Haltung ist durch Respekt, Achtung und Empathie für die Person des Schülers gekennzeichnet, vor allem aber durch das Bestreben, den Schüler zu möglichst selbständigem Erkennen und Lernen anzuleiten. Im Sokratischen Dialog soll der Lernende über sein eigenes Denken in bestimmten Situationen reflektieren lernen. Er soll selbst Widersprüche in seinem Denken erkennen und daraus seine Schlüsse ziehen. Es geht also auch hier nicht darum, dem Lernenden bestimmte Inhalte oder Denkweisen „beizubringen“. Vielmehr geht es bei der Sokratischen Methode darum, den Lernenden möglichst selbständig neue Einsichten und Erkenntnisse erarbeiten zu lassen.

Das wesentliche Mittel des Sokratischen Dialogs sind gezielte Fragen des Lehrenden. Fragen sind eher als Antworten geeignet, den Lernenden selbst die Verantwortung für ihren Lernprozess zu übertragen. Diese Fragen sollten möglichst offen, aber spezifisch sein und unmittelbar an Äußerungen der Lernenden anknüpfen. Diese Fragetechnik orientiert sich immer an der Maxime, dass es wichtiger ist, die Teilnehmer finden selbst das Richtige, als dass der Lehrer es ihnen sagt. Die Fragen können von direktem Ansprechen (Stimmt da alles?) bis zu paradoxen Interpretationen reichen (Was würde das aber nun bedeuten, wenn dies und jenes eintritt?) Anfangs wird diese Fragetechnik vielleicht etwas umständlich erscheinen und Teilnehmer sowie Fragender müssen sich erst daran gewöhnen, aber der Lernertrag lohnt die Mühe: die Teilnehmer bekommen bei dieser Methode das Richtige nicht einfach serviert, sondern müssen selbst denken, mitdenken und bekommen nur Hilfen, die sie darauf hinführen.

Grundsätzlich lassen sich zwei Fragerichtungen unterscheiden: Geht es eher darum Widersprüche zwischen dem Denken des Lernenden und seinen Zielen aufzudecken, so spricht man von der sog. hedonistischen Disputation. Zum Beispiel:

- Ist diese Vorgehensweise in Hinblick auf Ihre langfristigen Ziele sinnvoll?
- Welche Vorteile/Nachteile haben Sie, wenn Sie diese Vorgehensweise beibehalten?

• Geht es primär darum, Widersprüche zwischen seinem Denken und der Realität offen zu legen, so wird von logischer Disputation gesprochen. Zum Beispiel:

- Woher wissen sie das? Können Sie Beispiele nennen?
- Ist der Gedanke / die Schlussfolgerung logisch?
- Welcher logische Fehler ist hier enthalten?
- Woher wissen Sie, dass das wahr ist? Könnte es nicht ganz anders sein? Welche anderen Möglichkeiten gibt es, diese Beobachtung (diesen Fehler, dieses Ergebnis etc.) zu erklären?


DIE KUNST DES FRAGENSTELLENS 

In der bisher üblichen Erziehungstradition sind wird daran gewöhnt, befragt, belehrt, beurteilt zu werden, Erwartungen zu entsprechen. Wenn ich selbst Fragen stelle, schwimme ich gegen diesen Strom. Wenn ich aus eigener Initiative Fragen formuliere, verstärkt dies mein Selbstbewusstsein, ermutigt es mich, Umstände “in die Hand zu nehmen”, Helfern, Erziehern, Politikern und Trainern kritisch gegenüberzustehen, befähigt es mich, mehr und mehr, zum Dialog.

Die Kunst des Fragenstellens erwerbe ich durch Üben, vorzugsweise im Zusammenwirken mit anderen, im Hinblick auf ein zu lösendes, tatsächlich bestehendes Problem.

Fragen, mit denen ich die Qualität meines Fragens überprüfen kann:

1. Inwieweit führt die Frage zu relevanten Informationen, d.h. zu Einsichten in die Situation, die ich ändern möchte, oder zu Klärung des Problems, das ich lösen will?

2. Inwieweit ist die Frage offen, d.h. legt sie mich nicht fest auf Vorurteile? (Wie es zum Beispiel suggestive Fragen tun.)

3. Inwieweit lädt die Frage ein zu Vergleichen in Zeit (wie war es in früheren Perioden?) und Raum (wo tritt dieses Phänomen noch auf, wo nicht?)?

4. Inwieweit lenkt die Frage die Aufmerksamkeit auf Beziehungen (zum Beispiel zwischen einer Organisation und ihren Mitarbeitern, das Verhältnis von Angebot und Nachfrage, von Gemeindepolitik und Bedürfnissen der Einwohner, zwischen Gegensatzpaaren)?

5. Inwieweit fordert die Frage dazu heraus, Stellung zu nehmen, zu entscheiden, zu handeln?


2. Gespräche im Rahmen der Ausbildung

Auch wenn das Unterrichtsgespräch in erster Linie für den Schulunterricht entwickelt wurde, so hat es auch in der betrieblichen Bildung einen wichtigen Platz. Echte Gespräche erhalten aufgrund der neuen Lernkultur zunehmend größere Relevanz für die Ausbildung in den Betrieben.

In der Ausbildung gehören Lehr-Lern-Prozesse in Gesprächsform zum betrieblichen Unterricht und zu den Lehrgesprächen am Arbeitsplatz. Zwar geht es in beiden Fällen vor allem um den kognitiven Lernbereich und dabei in erster Linie um beruflich-fachliche Kenntnisse und Einsichten. Aber Unterrichtsgespräche haben unter anderem als betrieblicher Unterricht ihren Platz und ihre Berechtigung. Sie sind im Zusammenhang mit der neuen Lernkultur nicht zu entbehren, vor allem in Hinblick auf die Selbständigkeit der Lernenden sowie die Entwicklung von sozialer und kommunikativer Kompetenz.

Formen von Unterrichtsgesprächen sind vor allem dort zu empfehlen, wo selbständiges Bewerten und Kritisieren gelernt werden soll. Auch die im Rahmen beruflicher Weiterbildung zur Kernkompetenz gezählte „Ermöglichung von Orientierung“ liegt im Zielbereich des Unterrichtsgesprächs.

Beispiele für typische Unterrichtsgespräche sind Themen, bei denen es um die Verbesserung von Arbeitsprozessen im Betrieb geht oder deren Anpassung an individuelle Bedürfnisse und Ansprüche der arbeitenden Menschen oder wenn Belange des Umweltschutzes zu berücksichtigen sind. Auch rein technische Betriebsabläufe haben positive und negative Auswirkungen, die im Gespräch unter verschiedenen Aspekten diskutiert werden sollten.

 


 

 

Gepr. Berufspädagoge, Aus- u. Weiterbildungspädagoge, Ausbildung der Ausbilder IHK